Amerika ist ja ein Land, das mich immer wieder fasziniert und zu Reisen animiert. Aber die USA sind auch als Land bekannt für ihre Gegensätze, die uns gerade als Deutsche manchmal abstoßen.
In der Wochenendausgabe meines "Süderländers" ist nachfolgend der Artikel erschienen. Andere große Zeitungen (z.B. Frankfurter Rundschau) veröffentlichten diesen Artikel auch.
Chicago. Amerikas gefährlichste Stadt
Kaum eine Nacht vergeht in Chicago ohne Schusswechsel. Gangs haben die Randbezirke der Stadt fest im Griff, selbst Kinder werden als neue Mitglieder rekrutiert. Ein Besuch in der South Side.
„Sie schießen nur auf Leute, auf die sie es abgesehen haben.“ Der 18-jährige Octavius ist überzeugt, dass Besucher seine Wohngegend in der South Side von Chicago problemlos durchstreifen können, ohne sofort dem Tod ins Auge zu blicken. Getötet würden nur Mitglieder verfeindeter Gangs, die sich nach West Englewood trauten, versichert er. „Dann spielen sie verrückt, weil sie Krieg führen.“
Mit 440 Morden im vergangenen Jahr belegt die Mordhauptstadt der USA einen traurigen Spitzenplatz in der Kriminalitätsstatistik des FBI, zumindest in absoluten Zahlen. Mehr als 200 Morde waren es bereits in diesem Jahr, und seit 1985 ist die Großstadt am Lake Michigan aus den Top drei der Städte mit der höchsten Mordrate nicht mehr zu verdrängen. Allein über das 4.-Juli-Wochenende gab es stadtweit 82 Schießereien mit 16 Toten. Pro Einwohner gerechnet belegt Chicago den 21. Platz.
Die Lokalzeitung „Chicago Tribune“ ist schon dazu übergegangen, die oft tödlichen Schusswechsel der vergangenen Nacht nur noch sachlich hintereinander aufzulisten. Tiefer recherchiert und breiter erzählt werden nur noch außergewöhnliche Fälle, wie der, als Mitte Juli eine Elfjährige von einem Streifschuss getötet wurde. Längst nicht immer sind Banden involviert. Doch das Gang-Leben floriert: 2012 zählte die Polizei über 600 Splittergruppen mit rund 70.000 Mitgliedern, denen 11 700 Polizisten auf Patrouille gegenüberstanden.
North Side, West Side, South Side – wie ein krimineller Speckgürtel sind die Problemviertel um die wohlhabende Innenstadt gewachsen, in der Weltkonzerne wie der Flugzeugbauer Boeing und die Hotelkette Hyatt ihren Sitz haben. Es sind wahre „Wastelands“ da draußen, triste Einöden, in denen erwachsene Männer an einem Dienstagmittag um 14 Uhr im Unterhemd auf der Veranda sitzen und Gin trinken. Unkraut wuchert vor verlassenen Häusern, deren Türen und Fenster mit Holzbrettern vernagelt sind. Halbnackte Kinder spielen in der Sommerhitze auf dem Gehweg, die Schulferien vergehen wie in Zeitlupe.
Die Bilder tätowierter und bewaffneter Ex-Häftlinge, die ihr Viertel in nächtlichen Kleinkriegen verteidigen, sind eng verknüpft mit der Armut in den Brachen von Chicagos Randbezirken. Mit 8,4 Prozent liegt die Arbeitslosigkeit deutlich über dem nationalen Durchschnitt, und für Vater oder Sohn ist der schnell verdiente Dollar an der Ecke ein besseres Geschäft als im Supermarkt fremde Einkaufstüten zu packen. Octavius‘ Gang, die einflussreichen Traveling Vice Lords (TVR), verdienten mit dem Verkauf von Crack und Herion an der West Side zeitweise täglich 3000 bis 6000 Dollar, umgerechnete etwa 4400 Euro.
Eigene Gesetzen und Aufnahmeregeln
„Wenn Papa nicht da ist, es keine Vorbilder gibt und Mama gerade so über die Runden kommt, dann siehst Du diesen Typen auf Deinem Block, der ein Gang-Banger ist. Er verdient Geld und lebt gut“, sagt Marshaun Bacon, der in High Schools mit Schülern spricht, um Wege aus der Bandenkriminalität zu suchen. „Für einen jungen Mann ist das eine großartige Wahl, wenn er glaubt, dass ein Mann so sein sollte und Erfolg so aussieht.“ Das „Becoming A Man“-Programm (übersetzt: „Ein Mann werden“) der Organisation Youth Guidance soll den Teenagern zeigen, dass man im Leben auch anders zu Geld, Ruhm und Erfolg kommen kann.
Jede Gang, jede noch so kleine Clique, folgt ihren eigenen Gesetzen und Aufnahmeregeln. „Klau diesem Typ da drüben sein Handy, oder hau diesen Typ von seinem Fahrrad“, gibt Octavius als Beispiele für kleinere Aufgaben vor dem Beitritt zu den TVR. „Wenn Du es gut machst, bist Du mit uns, dann bist Du in unserer Gang. Wir werden Dich an die Ecke stellen und Dir etwas Stoff zum Verkaufen geben. Du wirst Geld verdienen, und die Leute werden Dich kennen.“
Und selbst die Jüngsten werden in die Machenschaften gezogen, Kinder im Alter von neun oder zehn Jahren, die ihre coolen Brüder und Onkels nachahmen wollen. Es gebe eine Menge Gang-Kinder, sagt die 16 Jahre alte Khyria, die ihrer ehemaligen Gang auf Wunsch ihrer Familie den Rücken gekehrt hat. „Selbst ein Zehnjähriger trägt schon eine Waffe“, sagt Octavius. Im KLEO-Gemeindezentrum an der South Side versucht Stephen Gazaway, auch den Jüngsten eine Perspektive aufzuzeigen. „Neun von zehn der Jugendlichen hier fühlen sich unerwünscht und nicht geliebt und gehen auf die Straße. Und dann fangen die Probleme an.“
„All diese jungen Männer haben eine Chance verdient“, sagt Marshaun Bacon, der sich noch gut an den Besuch von Präsident Barack Obama in einer seiner Schülergruppen erinnert. Vergangenen Sommer wurden die Teenager ins Weiße Haus eingeladen. Als Mitbringsel schenkten sie Obama – der lange in Chicago gelebt hat und dessen Frau Michelle in der Stadt geboren ist – eine Karte zum Vatertag. „Einige unserer Jungs haben vorher noch nie jemandem eine Vatertagskarte geschenkt“, sagt Bacon. (dpa)