Schlechte Laune ist gut! Ein Plädoyer gegen Selbsttäuschungen
04.09.2012
Essen. Mehr Realismus wagen: Unterm Strich macht nichts so unzufrieden wie das positive Denken. In seinem Buch wettert Psychotherapeut Arnold Retzer gegen den Trend zum Schönfärben. Motto: Wer Hoffnung hat, ist schlecht informiert.
Der Euro zerbröselt, macht nix: In jeder Krise liegt eine Chance. Alles wird gut. Wenn die Herbsterkältung kommt, begegne ich ihr mit intensiver Seelenarbeit. Aus Rückschlägen kann ich nur fleißig lernen. Ich bin mein eigener Manager. Ich bin meines Glückes Schmied!
Dumm nur, dass ich trotzdem schlechte Laune habe.
Es regiert das Prinzip Hoffnung, von der Eurokrise bis ins Privateste. Das positive Denken ist zum Diktat geworden. Der extrovertierte, von Sorgen unbelastete Strahlemensch ist das Idealbild der Casting-Gesellschaft, und die global stabile Währung, in der er entlohnt wird, ist Aufmerksamkeit. Die Miesepeter, die Niedergedrückten, die Zögerer und Zauderer werden an den Rand gedrängt. Wir sind, so beschreibt es der Soziologe Richard Sennett, Händler auf einem „Markt der Selbstoffenbarung“.
Wir sind eben nicht immer selbst schuld
Damit geht eine Verlagerung einher: Gesellschaftliche Dilemmata werden zu privaten, gar psychischen Problemen erklärt. Im Buch „Die Errettung der modernen Seele“ beleuchtet die Soziologin Eva Illouz den Siegeszug der Psychologie, die uns heute statt der Religion die „Spannung zwischen Verdienst und Glück“ zu erklären suche.
Die Psychologie mache das Unglück „zur Folge einer verletzten oder schlecht gehandhabten Seele“. Kurz: Am eigenen Leid sind wir immer selbst schuld. Es ist keine von außen (oder oben) auferlegte Prüfung mehr. Selbst lebensbedrohliche Krankheiten wie Krebs werden uns als „Chance“ gepriesen – wenn wir sie nicht durch Stress oder falsche Lebensführung gleich selbst mitverursacht haben.
Naturgemäß haben Psychologen ihre Zunft bisher stets verteidigt. Nun aber legt Arnold Retzer, Privatdozent für Psychotherapie an der Universität Heidelberg, eine „Streitschrift gegen positives Denken“ vor. Er geißelt die „Selbst- und Fremdtäuschung“ als Ursache depressiver Verstimmungen, zeigt ihre Mechanismen am Beispiel der Finanzkrise auf.
Wer Hoffnung habe, sei oft nur „schlecht informiert“. Nicht einmal gegen Krebs helfe sie, zitiert Retzer Studien: „Dass man Krebs mit positivem Denken niederringen könnte, ist ein gefährlicher Irrglaube.“ Und zugleich Zeichen einer grandiosen Selbstüberschätzung, die sich keine Grenzen mehr setzen lässt.
Lob der Angst und Schüchternheit
In unserem Unbegrenztheitswahn mutieren Eigenschaften wie Ängstlichkeit und Schüchternheit, einst Zeichen tiefer Innerlichkeit, zu schlimmen Makeln. Dabei könnten sie uns doch willkommene Entschleuniger im Machbarkeitsrausch sein. „Angst“, so Retzer, „gibt uns die Zeit, unsere Wahlmöglichkeiten zu überdenken“.
Ganz ähnlich argumentiert Florian Werner in seinem Buch „Schüchtern“, in dem er sich „zu einer unterschätzten Eigenschaft“ bekennt. Der Schüchterne lasse die Dinge gerne in der Schwebe: „Gerade, weil er sie noch nicht genutzt hat, stehen ihm alle Möglichkeiten offen.“ Dass immer mehr Menschen unter Schüchternheit zu leiden scheinen, begründet Werner zum einen mit der „Aufwärtsmobilität“ der Gesellschaft – je höher wir kommen, desto größer die Chancen zur Blamage.
Zum anderen werde Schüchternheit heute schon in einem frühen Stadium zur Sozialangst erklärt. Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung APA, deren Handbuch auch in Europa als „Bibel der Psychiatrie“ gilt, führt seit 1980 immer differenziertere Krankheitsbilder der „Sozialphobie“ auf. Wohingegen sie 2011 die „narzisstische Persönlichkeitsstörung“ gestrichen hat. Selbstverliebte Laut-Sprecher stellen kein Problem dar. Narzissmus gilt längst als normal.
Das Ende der Selbstoptimierung
Dabei entlarven wir uns im „Yes, we can!“-Wahn selbst als rückwärtsgewandte Romantiker: „Das romantische Subjekt ist in seinem Anspruch absolut und will sich nicht als begrenzt akzeptieren“, schreibt Retzer. Eine realistische, rationale Einschätzung der Lage aber würde uns womöglich zufriedener machen, auf eine ruhige, entspannte Weise.
„Erkenne, wer du nicht bist!“ – dieser Rat könnte der Anfang eines gutgelaunten Lebens sein.
Zum Weiterlesen:
•Arnold Retzer: Miese Stimmung. Streitschrift gegen positives Denken. S. Fischer, 336 S., 19,99 € – Ein Psychologe wendet sich gegen die eigene Zunft
•Florian Werner: Schüchtern. Bekenntnis zu einer unterschätzten Eigenschaft. Nagel & Kimche, 176 S., 17,90 € – Die Kulturgeschichte des Phänomens, in aller Zurückhaltung
•Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele. Suhrkamp, 412 S., 26,80 € – Die Soziologin erzählt, wie die Psychologie unser Denken prägt
Britta Heidemann (aus
www.derWesten.de, WR)
Mir gefällt obiger Artikel sehr und manchmal ist es auch dran sich selbst einmal zu hinterfragen. Wie funktioniere ich und auf welcher Basis? Diese ewige Grinsegesicht von manchen Menschen und dann die vorgefertigten Antworten auf die Frage: Wie geht es Dir?
Im beruflichen Bereich sehe ich die eine oder andere Handlungsweise ja noch ein. Ein Verkäufer/eine Verkäuferin sollte freundlich sein, auch wenn er/sie sich nicht fröhlich fühlt. Aber das ewige positive Denken hilft einem wirklich nicht immer weiter. Jemanden auf dem Sterbebett zu sagen, "Kopf hoch, wird schon wieder" ist mehr als kalt, gleichgültig und Pietätlos. Aber ob der Artikel etwas bewirken wird? Wäre schon schön!!!