Der vergessene Jahrestag des 4. November 1989
"Wir haben die DDR-Führung weggelacht"
4. November 1989, Ost-Berlin: Rund 500.000 Menschen demonstrieren auf dem Alexanderplatz. Auf bunten Plakaten werden die Mächtigen aufs Korn genommen. Das DDR-Fernsehen überträgt live. Mit dabei sind sind auch der Journalist Siegbert Schefke und der Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer. Im Gespräch mit tagesschau.de erzählen sie von der größten genehmigten Massendemonstration in der Geschichte der DDR - fünf Tage vor dem Mauerfall.
(Von Wenke Börnsen, tagesschau.de)
Mit einem beklemmenden Gefühl geht der Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer am Morgen des 4. November zum Ost-Berliner Alexanderplatz. "Ich hatte noch große Angst. Zum einen, weil ich nicht wusste, wie viele Menschen kommen würden. Zum anderen, weil ich befürchtete, dass die Stasi-Leute Gewalt provozieren würden", erzählt er im Gespräch mit tagesschau.de.
Auch der Journalist und Bürgerrechtler Siegbert Schefke macht sich an diesem Morgen auf dem Weg zum Alex. Prügelorgien wie noch vor vier Wochen in Leipzig befürchtet er nicht mehr. "Die Angst war längst weg." Im Gegenteil: "Es war richtig lustig. Die Demo hatte Volksfestcharakter", erinnert sich Schefke im Gespräch mit tagesschau.de. Es sei eine völlig andere Atmosphäre gewesen als auf den abendlichen Leipziger Montagsdemonstrationen. "In Leipzig war es immer schon dunkel, man hatte Angst vor der Gewalt des DDR-Staates." Schefke hatte die Prügeleien am 2. Oktober in Leipzig am eigenen Leib miterlebt. "Am 9. Oktober wurde schon nicht mehr geprügelt. Da wusste ich, dass es bei uns nicht so endet wie damals in Peking auf dem Platz des Himmlischen Friedens."
Der 4. November ist fast vergessenAuch bei Schorlemmer legt sich im Laufe des Vormittags die Angst: "Die Demo wurde zu einem politischen Volksfest“, bestätigt er. Mehr noch: „Es war für mich ein Tag der Freiheit, den ich nie vergesse."
Andere schon. Im offiziellen Wende-Gedächtnis findet dieser 4. November im Revolutionsherbst 1989 fast nicht statt. 9. Oktober, Leipzig, 9. November, Berlin - aber der 4. November? Fast vergessen. "Ich halte das für Geschichtsklitterung", empört sich Schorlemmer. Seine Erklärung: "Alles wird vom 9. November überstrahlt." Dabei sei der 4. November der Versuch gewesen, eine demokratisierte DDR zu schaffen.
Es geht an diesem Tag um Pressefreiheit, um Reisefreiheit, um freie Wahlen – nur um eines geht es nicht an diesem 4. November: um die deutsche Einheit. "Die stand überhaupt nicht auf der Agenda", erinnert sich Schorlemmer. "Wir wollten ein anderes Land aufbauen. Wir wollten eine grundlegende Veränderung der DDR."
Die DDR-Führung wankt
Künstler und Kulturschaffende haben die Demonstration organisiert. Die DDR-Führung wankt zu diesem Zeitpunkt bereits. "Da war richtig Druck im Kessel", beschreibt Journalist Schefke die Situation Anfang November 89. In Leipzig demonstrierten Montag für Montag Zehntausende, täglich flüchteten tausende DDR-Bürger in den Westen. SED-Chef Erich Honecker war schon nicht mehr im Amt und Nachfolger Egon Krenz ohne Autorität. Die Protestdemonstration auf dem Alex wird offiziell genehmigt. Das DDR-Fernsehen überträgt erstmals live.
Auf der Rednerliste stehen mehr als 20 Namen – nicht nur die von SED-Gegnern und Bürgerrechtlern. Neben den Schriftstellern Christa Wolf und Stefan Heym, Schauspieler Ulrich Mühe, Regimekritiker Jens Reich und den Kirchenvertretern Marianne Birthler und Friedrich Schorlemmer sprechen auch die SED-Mitglieder Gregor Gysi und Lothar Bisky, Ex-Stasi-General Markus Wolf und Politbüromitglied Günter Schabowski zu den Demonstranten. Sie versuchen es zumindest. "Sie wurden lautstark ausgepfiffen", erinnert sich Schefke. "Die müssen in einer völlig verklärten Welt gelebt haben." Ihm ist es unbegreiflich, "dass Mauerverantwortliche, wie Schabowski oder Wolf, an diesem Tag vor das Volk treten konnten."
[Bildunterschrift: "Warum reißen die nicht schon heute die Mauer ein?" Der Journalist Schefke. ]Als eine "krasse Fehleinschätzung der Lage" bewertet Schorlemmer die Entscheidung der DDR-Oberen, sich den Massen zu stellen. "Sie wurden vor den Fernsehaugen von der Bühne gelacht." Zusammen mit Schabowski oder Markus Wolf auf der Rednerliste zu stehen, stört Schorlemmer bis heute nicht."„Nein, ich habe Respekt davor, dass sie gekommen waren."
"Der DDR-Staatsapparat wurde ausgepfiffen"
Bei diesem "Fest der Demokratie", wie Jens Reich diesen 4. November später einmal beschreibt, haben die DDR-Oberen nichts mehr zu melden. "Der ganze DDR-Staatsapparat wurde plattgemacht, ausgepfiffen, lächerlich gemacht", sagt Schefke. Mutig und frech geht es auf Plakaten gegen Partei und Politiker: "Glasnost statt Süßmost", "Reformen, aber unbeKrenzt", "Neue Männer braucht das Land" und immer wieder "Keine Gewalt". "Wir haben die DDR-Führung von der Macht gelacht", sagt Schorlemmer.
Die Massendemonstration bleibt friedlich – vielleicht auch, weil niemand zur Mauer ging. "Es war eine erhebliche Zahl an Sicherheitskräften zusammengezogen", erinnert sich Schorlemmer. Die DDR-Führung habe wohl damit gerechnet, dass die Massen zur Mauer strömen würden. "Dann wäre es nicht friedlich geblieben."
Schefke sieht das anders. Warum gehen diese Menschenmassen nicht einfach zur Mauer, zum Brandenburger Tor?, habe er sich damals auf dem Alex gefragt. "Warum reißen die nicht schon heute die Mauer ein?" Er versteht das bis heute nicht.
Der Pfarrer und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer geht nach der Kundgebung glücklich nach Hause."Nie habe ich mich mit der DDR so identisch gefühlt wie an diesem Tag", sagt er."Ich dachte, wir können mit dem klugen Volk der DDR ein demokratisches, ein freies Land aufbauen. Der Wunsch wird bald schon von der Realität überholt: Fünf Tage später ist die Mauer offen.
Zur Person:
Friedrich Schorlemmer, Jahrgang 1944, ist evangelischer Theologe, Bürgerrechtler und Publizist. Von den siebziger Jahren an war er Mitglied der Friedens-, Menschenrechts- und Umweltbewegung in der DDR. 1989 gehörte zu den Mitbegründern des "Demokratischen Aufbruchs". Schorlemmer unterzeichnete den Aufruf "Für unser Land" vom 26. November 1989, in dem sich die Initiatoren und Unterzeichner gegen eine deutsche Wiedervereinigung und für eine Eigenständigkeit der DDR aussprachen. 1993 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Schorlemmer ist Mitglied der SPD.
Zur Person:
Siegbert Schefke, Jahrgang 1959, studierte an der Hochschule für Bauwesen. 1986 war er Mitbegründer der Umweltbibliothek in Berlin. Ab 1987 arbeitete er als freiberuflicher Fotograf, Journalist und Kameramann für verschiedene politische TV-Magazine und westliche Zeitungen. Er dokumentierte die Umweltzerstörung und den sich formierenden Widerstand in der DDR. 1989 lieferte er zusammen mit Aram Radomski die ersten Bilder von den Leipziger Montagsdemonstrationen. Heute arbeitet Schefke für den MDR und ARD-aktuell.
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Voller Dankbarkeit bin ich, dass endlich das deutsche Volk wiedervereinigt ist. Ich konnte mir das damals zwar nicht vorstellen, aber ich muss auch gestehen, dass ich da früher nie groß drüber nachgedacht hatte, zumal wir keine Verwandten im Osten hatten. Das ist erst anders geworden als ich Ende der 70er Jahre zum ersten Mal vor der Mauer, den Todesstreifen und am Check Point Charlie stand. Sehr bewegend waren damals die Stunden im Check Point Charlie Museum. Im November 1990 hatte ich Freunde in Berlin besucht. Auf dem ehemaligen Todesstreifen stand mitten in Berlin ein großer Zirkus. Die Vorstellung ging gegen 23.00 h zu Ende und das Orchester spielte "Oh du fröhliche...".