2003/ 2004: Geheimnisvoller Außenseiter
Rock-Geschichte, 12.08.2011, Harald Ries (Der Westen.de - Die Geschichte des Rock)
Die Rückkehr des Johnny Cash: „American Recordings“ war eine Sensation. Cash allein mit der Gitarre, die tiefe, mächtige Stimme schien aus dem Jenseits zu kommen, erzählte von Schuld und Buße und Beichte und Erlösung. Und auf einmal war Johnny Cash ein MTV-Star.
Als Johnny Cash am 12 September 2003 starb, im Alter von 71 Jahren, stand er auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Ein Jahrzehnt zuvor war er zwar nicht vergessen, dazu ist sein Lebenswerk zu einflussreich, aber kommerziell erledigt. Die Platten verkauften sich schlecht, er hatte Probleme, überhaupt einen Vertrag zu bekommen und wurde kaum im Radio gespielt. In Nashville mochte man es jünger, poppiger und glatter, auf Konzerten zehrte er von lange vergangenem Ruhm. Dann kam Rick Rubin.
Der Hip-Hop- und Metal-Produzent erkannte in Cash das, was die Jahrzehnte verdeckt hatten: den geheimnisvollen, unangepassten Außenseiter. Das erste gemeinsame Album, „American Recordings“, wurde eine Sensation. Minimalistisch, düster. Cash allein mit der Gitarre, die tiefe, mächtige Stimme schien aus dem Jenseits zu kommen, erzählte von Schuld und Buße und Beichte und Erlösung. Und auf einmal war Johnny Cash ein MTV-Star, gewann eine neue Generation von Zuhörern.
Solch ein Erfolg, der sich bis zu seinem Tod (und darüber hinaus) fortsetzte, hat immer auch außermusikalische Gründe. Gegen Ende kam eine etwas makabre Faszination dazu, die einige Jahre später auch das öffentliche Sterben von Papst Johannes Paul II. begleitete: Man wusste um die schweren Krankheiten, man hörte die Stimme immer brüchiger werden, man sah eine gramgebeugte Gestalt, die nicht aufgab.
Was aber noch wichtiger war: Viele Fans hatten das Gefühl, Johnny Cash Unrecht getan zu haben. Wir hatten zu lange nicht gesehen, welch gewaltige Figur der „Man in Black“ immer gewesen war. Wir wussten zu wenig. Klar: Man kannte „Ring of Fire“ und „I Walk the Line“und „A Boy Named Sue“, man hatte vom Gefängnis-Konzert in San Quentin gehört. Aber Country? Das war doch irgendwie reaktionär, vorgestrig.
Der ewige Grenzgänger
Und dass Cash in bitterarmen Verhältnissen in Arkansas aufgewachsen war, als Jugendlicher auf Baumwollfeldern gearbeitet und später im Gefängnis gesessen hatte, das war doch bestimmt auch nur so eine Image-Legende. Dachten wir. Wir wussten nicht, dass Cashs zweite, 1955 erschienene Single der „Folsom Prison Blues“ war, mit der Zeile „I shot a man in Reno, just to watch him die“, was eine Nummer härter klingt als das, was die meisten Gangsta-Rapper von sich geben. Nur, dass er auf der Seite der Verlierer stand.
Wir kannten sein Engagement für die Rechte der Indianer nicht, hatten keine Kenntnis davon, dass Cash in seiner Show Bob Dylan den ersten TV-Auftritt verschaffte, waren ahnungslos, was seine Abgründe anging, Tablettensucht und Entziehungskuren. Wir sahen nur die Oberfläche: Patriotismus, Religiosität, die gefällig singende Gattin June mit ihrer Carter Family. Wir wussten nicht einmal, dass Kris Kristoffersons Lied „The Pilgrim“ von Johnny Cash handelte: „He’s a walking contradiction, partly truth and partly fiction”.
Der wandelnde Widerspruch aus Wahrheit und Fiktion war auch musikalisch immer ein Grenzgänger gewesen, hatte Blues und Rockabilly und Folk und Gospel ins Country-Universum integriert, mit Louis Armstrong, Ray Charles und Eric Clapton gespielt, 500 Songs geschrieben und nahm am Ende auf, was ihn bei anderen beeindruckte: „Hurt“ von Nine Inch Nails, „One“ von U2, „I Won’t Back Down“ von Tom Petty. Und wer hätte authentischer singen können „Jesus, I Don’t Want To Die Alone“?
Im Mai 2003 starb June Carter Cash, nach 35 Jahren Ehe. Bei ihrer Beerdigung saß Johnny Cash schon im Rollstuhl. Dann ging er wieder ins Studio, in die Blockhütte gegenüber von seinem Haus. Knapp vier Monate hielt er noch ohne sie durch.
Ein Schmerzensmann, der die Würde bewahrt
Das eindrucksvolle Bild vom Schmerzensmann, der Würde und Integrität bewahrt, hätte wohl auf Dauer alles andere überdeckt, wenn nicht 2005 „Walk the Line“ ins Kino gekommen wäre, die Filmbiographie mit Joaquin Phoenix und Reese Witherspoon über die Jahre von 1944 bis 1968, die naturgemäß einen ganz anderen, einen wilden und ziemlich attraktiven Johnny Cash zeigte.
Der als Zwölfjähriger miterlebt, wie sein Bruder Jack von einer Kreissäge tödlich verletzt wird. Der 1955, nach Beendigung seiner Militärzeit in Deutschland, in Memphis von Sam Phillips unter Vertrag genommen wurde, dem Besitzer von Sun Records. Der 1956 begann, jedes seiner Konzerte mit dem Satz „Hello, I‘m Johnny Cash“ zu eröffnen. Der unermüdlich tourte und schrieb und abstürzte.
Der wagte, was in der Country-Szene sonst keiner wagte. Der mit June Carter und ihrer berühmten Familie Konzerte gab und ihr nach einem Jahrzehnt, nach der Trennung von seiner ersten Familie, auf offener Bühne einen Heiratsantrag machte.
So besteht Hoffnung, dass die atemberaubende „American Recordings“-Reihe das große Gesamtwerk nicht zu sehr in den Schatten stellt. Johnny Cash war nämlich schon von Anfang an gut. Als Songschreiber. Als Sänger. Als Mythos. Das hat nur nicht jeder Nachgeborene rechtzeitig begriffen.