Zu Lebzeiten drehte sich die ganze Musikwelt um den 1847 verstorbenen Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy. Gut 100 Jahre später musste der Pionier der Romantik selber ran. Es war sein Violinkonzert in e-moll, Opus 46, dass sich am 21. Juni 1948 auf einem Plattenteller im Waldorf-Astoria-Hotel drehte. Der Chef von Columbia Records, Edward Wallerstein, hatte den anwesenden Journalisten eine „Weltsensation“ angekündigt: die erste, aus dem Kunststoff Polyvinylchlorid (PVC) hergestellte Schallplatte.
Schellack-Platten gab es schon früher
Einen Namen trug das Kind auch schon: „Long-playing microgroove record“, kurz „LP“, hieß das Medium, mit dem Wallerstein vor 75 Jahren die Branche aufmischen wollte. Um zu verstehen, dass das alles keine leeren Versprechungen sein würden, müssen wir noch einmal kurz zurückspulen. Denn die ersten schwarzen Scheiben samt dem dazugehörigen Abspielgerät, damals einem Grammophon, hatte schon 1887 der in die USA ausgewanderte gebürtige Hannoveraner Emil Berliner auf den Markt gebracht. Für seine Schallplatten experimentierte Berliner mit verschiedenen Materialien und landete schließlich bei einem Gemisch auf Basis von Schellack, einer harzigen Substanz aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus. Das Problem: Die zur Wiedergabe von Sprache oder Musik erforderlichen Rillen waren vergleichsweise dick und ließen sich nur mit relativ großen Abständen auf die Schellackplatten pressen. Die Folge: Bei den frühen Exemplaren blieb die Spieldauer auf wenige Minuten beschränkt.Trotzdem wurde das neue Produkt ein Kassenschlager, wie Historiker Hermann Schäfer schreibt. „Das Hören von Musik war nicht mehr auf den Besuch eines Konzerts begrenzt, was im 19. Jahrhundert bei vor allem lassischer Musik meist nur einem höhergestellten Publikum möglich war.“ Spätestens ab den 1920er-Jahren schnellten die Verkaufszahlen in die Höhe. In den Vereinigten Staaten wurden 1927 bereits 104 Millionen Schallplatten abgesetzt. Und die Deutschen kauften 1925 fast 200.000 Grammophone.
Historiker Hermann SchäferDas Hören von Musik war nicht mehr auf den Besuch eines Konzerts begrenzt, was im 19. Jahrhundert bei vor allem klassischer Musik meist nur einem höhergestellten Publikum möglich war.
„Wurde vor dem Ersten Weltkrieg überwiegend 'ernste' Musik gepresst, so dominierte 1930 bereits die Unterhaltungsmusik mit Schlagern“, fasst Schäfer die Entwicklung zusammen. Die neuartige LP aus PVC kam nicht nur mit einem frischeren Klang als die Schellackplatte daher. Dank äußerst dünner Rillen hatte sich die Abspieldauer vervielfacht. Mendelssohn Bartholdys Konzert passte auf eine einzige Platte, die lediglich – nach dem Ende des ersten Satzes – umgedreht werden musste.Die Konkurrenz schlief nicht: 1949 präsentiert die Radio Corporation of America RCA ebenfalls eine Vinylplatte, allerdings mit kleinerem Durchmesser. Die „Speicherkapazität“ war der einer Schellackplatte vergleichbar. Aber: Die robusteren Singles ließen sich unkompliziert auf tragbaren Plattenspielern abspielen. Music to go: Ein wichtiges Element für die Verbreitung von Jazz und Schlager, Rock'n'Roll und Pop. Ab den 1960er-Jahren ging es dann richtig rund. Bands wie die Beatles nahmen ihre ersten „Konzeptalben“ auf. Dabei kamen wahre Kunstwerke mit teilweise aufwendig gestalteten Plattencovern heraus, etwa „Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band“. Zu den klingenden Beispielen einer schillernden Ära gehörten auch Genesis mit „A Trick of the Tale“, Pink Floyd mit „The Piper at the Gates of Dawn“ oder das Debütalbum von Led Zeppelin mit dem brennenden Luftschiff „Hindenburg“ auf dem Cover, damals heftig umstrittenen.
4,3 Millionen verkaufte LPs im Jahr 2022
Später wurden die schwarzen Scheiben selber bunt, wie 1989 bei der Picture-LP „3 Feet High & Rising“ der Hip-Hop-Combo De La Soul. Zu diesem Zeitpunkt hatten Kompaktkassetten und die 1981 vorgestellte CD den Schallplatten allerdings den Rang abgelaufen. Inzwischen ist Musik im Internet bei Streamingdiensten in unendlicher Vielfalt an praktisch jedem Ort der Welt abruf- und hörbar. Doch Totgesagte leben länger. 2022 wurden allein in Deutschland 4,3 Millionen LPs verkauft. Papst Franziskus huschte Anfang des vergangenen Jahres in einen Plattenladen. Und selbst Jüngere wie der 33-jährige Wilson Gonzales Ochsenkecht outen sich als Vinyl-Fans. „Musik hören, verbunden mit diesem haptischen Erlebnis, das Cover in die Hand nehmen können, das hat mich gekriegt.“
(von: Joachim Heinz)